Timo zeigt es sich und denen, die sein Talent übersahen

Streiflichter Coesfeld, 19.12.2012 von Sebastian El-Saqqa

Achtjähriger Letteraner kämpft sich mit Spaß zurück in den Schulalltag

Lette. Schlaflose Nächte, ein Kind, das sich aus Angst zur Schule zu gehen, einschließt und als Schulversager abgestempelt wird – diese Zeiten sind zum Glück Vergangenheit! Auch der achtjährige Timo aus Lette hatte oft keine Lust mehr zur Schule zu gehen und hat sich eindrucksvoll zurück in den Schulalltag gekämpft und das alles mit einer gehörigen Portion Spaß. Es sind bis zu neun Schüler in jeder Klasse, denen es wie Timo geht: Talente und solche, die als Schulversager, ADHS-Beeinträchtigte oder Legastheniker etikettiert werden, die aber über verblüffende intuitive und bildhafte Fähigkeiten verfügen.
„Nicht nur diesen, sondern allen Kindern knipsen die Schulen das Licht aus und drücken ihnen eine Taschenlampe in die Hand, damit sie die Welt auf eine von ihnen fremde Art erforschen: Schritt für Schritt, ausschnittsweise, regelhaft, analytisch, rational“, behauptet Claudia Pinzke, die selbst als Lehrerin in der Sekundarstufe I und II unterrichtet hat. Heute leitet sie das „Institut für Bioenergetisches Lernen“ in Münster. Und sie zeigt, wie es anders geht. In ihrem Buch „Das Große und Ganze sehen. Fotografisch lesen – intuitiv lernen“ (ISBN 978-3-9814745-0-3) macht sie allen Hoffnung, die sich selbst oder ihre Kinder für lernschwach halten. Die Meinung der Autorin und Lehrerin ist gewollt provokativ: „Schulversagen ist Versagen des Schulsystems.“

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Die Warnsignale bei Timo seien ignoriert worden. Der Zweitklässler war zerstreut, unkonzentriert, ständig abgelenkt. Aber: Den Kopf voller Ideen und Einfälle. Hausaufgaben vergessen! Schulbücher? Nicht dran gedacht! Dem Unterricht im Sitzen folgen – fast unmöglich! Doch hochkonzentriert und aufmerksam, wenn der Unterricht interessant und die Themen spannend sind.

Mutter Anke hat über eine Freundin von Claudia Pinzke erfahren und sie zu Rate gezogen. „Der Junge hatte sich da schon aufgegeben“, sagte die Expertin, als sie Timo am Ende der Sommerferien übernommen hatte. „Mit den alten Erziehungsstrukturen kommt er nicht mehr zurecht.“ Sie ergriff Initiative. Und siehe da… ihre Arbeit trägt bereits Früchte. Die Familie gewährt den Streiflichtern einen exklusiven Blick in die beeindruckende Entwicklung ihres Sohnes: Während Timo noch mit seinem Bruder in der Schubkarre ums Haus tobt, kramt die Pädagogin als „Warmmachübung“ einen Zettel aus der Tasche. Untereinander ist darauf das Alphabet gelistet. Der Achtjährige setzt sich an den Tisch, legt innerlich einen Schalter um, lauscht der Pädagogin, als käme er gerade aus der großen Pause zurück ins Klassenzimmer.
Auf ihren Wunsch kneift er seine Rehäuglein zusammen und entspannt sich. „Was siehst du, wenn du an Weihnachten denkst?“, fragt sie ihn. Er antwortet: „Den Nikolaus.“ Der Kleine hält seine Augen noch immer zu und beginnt den Nikolaus in allen Farben zu beschreiben. „Schaffst du es in deiner Fantasie das Wort Nikolaus auf den roten Mantel zu schreiben?“ Timo nickt und überträgt das Wort in seine Vorstellung. Dann beginnt er es fehlerfrei vorwärts und rückwärts zu buchstabieren. Mit Hilfe seines visuellen Talents gelingt es ihm in der Rechtschreibung immer besser zu werden. Dann schnappt er sich ein Kinderbuch und liest daraus vor. „Zwei Sätze“ sagt die Pädagogin. Doch der Bayern-Fan ist kaum zu bremsen. Nachdem er eine Seite flüssig vorliest, streichelt sie ihn an der Schulter: „Toll gemacht!“
Auch zu diesem Text macht er beim Vorlesen innere Bilder und ist im Anschluss in der Lage, den Inhalt mit allen Details wiederzugeben.
„Er macht große Fortschritte und das nach nur sechs Stunden.“ Timo hat es also nicht nur sich selbst bewiesen, sondern auch denen, die sein Talent übersehen haben.
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Timo aus Lette zählt zur Gruppe anders denkender und lernender Kinder. Der Zweitklässler wechselte im Sommer an die Kardinal-von-Galen-Schule und erlangte an der Seite von Claudia Pinzke den Spaß wieder. Foto: El-Saqqa

Zum Thema: AD(H)S

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung AD(H)S ist eine bereits im Kindesalter beginnende psychische Störung, die sich durch Probleme mit der Aufmerksamkeit, Impulsivität und Hyperaktivität auszeichnet. Schätzungsweise drei bis zehn Prozent aller Kinder zeigen Symptome im Sinne einer ADHS. Die ADHS gilt heute als häufigste Ursache von Verhaltensstörungen und schulischen Leistungsproblemen von Kindern und Jugendlichen. Entgegen früherer Aussagen, die ADHS trete vorwiegend bei Jungen auf (je nach Studie bis zu einem Verhältnis von 8:1 zu den Mädchen), weisen neuere Untersuchungen auf eine annähernd ausgeglichene Geschlechterverteilung hin.