Allgemeine Zeitung Coesfeld, 16. Februar 2019, von Jessica Demmer
Vortrag „AD(H)S und Leserechtschreibschwäche als Talentsignal“
COESFELD. AD(H)S und Leserechtschreibschwäche (LRS) als Talentsignal – so lautet der Titel des Vortrages, den Claudia Pinzke, Leiterin des Instituts für Bioenergetisches Lernen in Münster, am kommenden Montag (18.02.) um 19.30 Uhr im Pfarrzentrum Anna Katharina halten wird. Hinter diesem scheinbaren Widerspruch – eine Schwäche als Talent – stecken viel Wissenschaft und verblüffende Erkenntnisse. Redaktionsmitglied Jessica Demmer hat mit Anke Zellien gesprochen, die als Kinder- und Jugendlerncoach für die Regionalstelle Coesfeld des Instituts tätig ist.
Der Vortragstitel klingt zunächst einmal etwas widersprüchlich…
Zellien: Ja, aber nur auf den ersten Blick. Kinder, die durch AD(H)S oder Leserechtschreibschwäche negativ auffallen, haben oft das Talent eines Bildergedächtnisses. Die Kinder, die seit 2002 in unserem Institut gefördert wurden, hatten alle dieses Talent – unabhängig von der Schulform, die sie besucht haben. Bei entsprechender Förderung können die Kinder und Jugendlichen, aber auch Erwachsene, große Leistungen abrufen, die Schwächen würden kleiner werden, sogar verschwinden.
Was genau steckt hinter der These? Was unterscheidet diese Kinder von anderen?
Anke Zellien, Kinder- und Jugendlerncoach, von der Regionalstelle Coesfeld des Instituts für Bioenergetisches Lernen in Münster.
Zellien: Sie nehmen Wissen ganz anders auf und rufen es auch anders ab. Während in unserem Schulsystem hauptsächlich mit der linken Gehirnhälfte gearbeitet wird, arbeiten diese Personen eher mit der rechten. Die linke ist für logisch- analytisches Denken zuständig. Sie ist auf Fakten gerichtet, auf die Welt der Wörter und wird hauptsächlich in der Schule gefördert. Die rechte Gehirnhälfte ist die fantasievolle, die intuitive und ist für die Welt der Bilder zuständig. Spannend ist, dass die linke Gehirnhälfte nur ein Potenzial von vier Prozent erbringt, während die rechte Hälfte 96 Prozent besitzt.
Also sind die Kinder nicht lernschwach, sondern brauchen andere Förderung.
Zellien: Ja, das stimmt. In den Kursen, die Claudia Pinzke gibt und die ich begleite, vermitteln wir bestimmte Lerntechniken, um diesen knoten zum platzen zu bringen. Im Fotolesekurs zum Beispiel fördern wir das ganzheitliche Denken, das Bildergedächtnis. Durch diese Methode lassen sich schnell sehr große Wissensmengen aufnehmen. Ich kann von einer Abiturientin berichten, der es unglaublich schwer gefallen ist, Englisch in der Schule zu lernen. Als sie für eine kurze Zeit in Portugal gewesen ist, beherrschte sie die Sprache nach drei Monaten komplett. Weil sie sie anders gelernt hat. Ganzheitlicher. Nicht Text, Grammatik und Vokabeln voneinander getrennt.
Können von diesen Lerntechniken auch andere Kinder profitieren?
Zellien: Ja, weil die Lernmethoden sinnvoller sind, um dauerhaft Wissen zu speichern. Beim reinen Auswendiglernen geht Wissen oftmals lediglich ins Kurzzeitgedächtnis und wird nach der Klassenarbeit wieder vergessen.
Also müsste sich schon etwas im Schulsystem ändern, damit die Kinder bei entsprechender Diagnose eine andere Förderung bekommen.
Zellien: Im Prinzip schon. Dies soll aber kein Vorwurf sein, Lehrer haben schon unglaublich viele Aufgaben, nicht zuletzt durch die Inklusion. Aber wenn das System insgesamt etwas sensibler auf diese Kinder reagieren und sie anders fördern würde, würden viele Lernprobleme gar nicht erst entstehen bzw. nicht so groß werden. Die Kinder würden nicht so schnell schulmüde und schneller lernen. Nur eben anders. Bei einer Leserechtschreibschwäche ist es gar nicht unbedingt gut, wenn man das Lernen verlangsamt, zum Beispiel durch Silben klatschen. Da gibt es wesentlich bessere Begleitmöglichkeiten.
Wie viele Kinder haben denn AD(H)S und LRS?
Zellien: Mittlerweile sind dies keine Einzelfälle mehr. Rund 20 Prozent sind betroffen. Allerdings nimmt auch das Verschreiben von Ritalin zu und das ist kontraproduktiv für die Lernentwicklung.
Auf wie viele von AD(H)S und LRS betroffene Kinder trifft diese Talent denn zu?
Zellien: Wir kennen kein Kind mit dieser Diagnose, das nicht dieses versteckte Talent hat. Das schlummert in allen. Allerdings müssen die Kinder und Jugendlichen auch bereit sein, bei entsprechender Förderung, diese Art des Lernens in der Schule anzuwenden. Je eher das passiert, umso besser.
Lerntechniken sind ja das eine, was muss sich noch in der Umgebung des Kindes ändern,um positiv die Entwicklung zu beeinflussen?
Zellien: Hemmend sind natürlich Druck – da geht das Bildergedächtnis schnell verloren – , unklare Regeln, keine Konsequenzen, Anspannung und unbewusst negative Beeinflussung übertragen durch Spiegelneurone. Wenn Lehrer oder Eltern denken, das Kind zeigt eine schlechte Leistung, entwickelt es sich auch schlecht. Fördernd ist dementsprechend eine positive Einstellung, eine Kommunikation auf Augenhöhe und Fairness.
In den Kursen des Instituts bieten Sie Förderung für die Kinder, aber auch für das Schulsystem bzw Lehrer?
Zellien: Ja, wir zeigen bestimmte Techniken zum Lernen, aber auch zum Entspannen. Da reicht manchmal auch ein Wochenende, um diese Fähigkeiten abrufen zu können. Für Lehrer bzw. Schulen haben wir auch Fortbildungen in denen wir zeigen, wie sich diese Fördertechniken in den Schulalltag integrieren lassen.
An wen richtet sich der Vortrag am kommenden Montag?
Zellien: An alle Schüler, Eltern, Lehrer und alle, die sich für das Thema interessieren. Wir zeigen einige Lese- und Lerntechniken, die jedem Lernenden zugute kommen. Wir wollen für das Thema sensibilisieren und darauf aufmerksam machen. Wir möchten den Blickwinkel auf AD(H)S und LRS verändern.
■ Vortrag AD(H)S und Leserechtschreibschwäche als Talentsignal, Claudia Pinzke, Institut für Bioenergetisches Lernen, Montag (18.02.), 19.30 Uhr, Pfarrzentrum Anna Katharina, der Eintritt ist frei.
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