Wenn die rechte Gehirnhälfte stärker ist…

Westfälische Nachrichten, 1. März 2006 von Bettina Laerbusch

Greven. C. L. hatte stets Schwierigkeiten in der Schule. Dabei hielten ihn die allermeisten Lehrer durchaus für intelligent, sogar für sehr intelligent. Doch die Leistungen des Kindes und später Jugendlichen ließen zu wünschen übrig. Mündlich sprich sprachlich klappte es meistens noch recht gut. Doch wenn Wissen schriftlich abgefragt wurde, zeigte C. L. schwache Leistungen, was niemand so recht verstand, am wenigsten seine Eltern. Mit einem großen Kraftakt schaffte er schließlich den Realschulabschluss.
22 Jahre ist L. heute alt. Wer ihm gegenüber sitzt und sich mit ihm unterhält, der hat einen wachen, tiefsinnigen intelligenten Gesprächspartner vor sich, einen, der viel vom Leben weiß. Vor einem Jahr kam L. durch private Kontakte mit Claudia Pinzke in Kontakt. Sie leitet seit 2003 das Institut für Bioenergetisches Lernen in Münster und ist sich sicher, sozusagen des Rätsels Lösung gefunden zu haben: C. ist eindeutig rechts-dominant.
Was das bedeutet? Nach Überzeugung von Claudia Pinzke gibt es viele Menschen, deren rechte Gehirnhälfte stärker ausgeprägt ist und stärker arbeitet als die linke. Diese Menschen denken anders als links-dominante Personen ganzheitlich. Sie kommen nicht vom Detail aufs Ganze, also zum Beispiel vom Buchstaben zum Wort. Sie prägen sich ein neues Wort fotografisch ein. Rechts-dominant denkende Menschen kommen vom Ganzen aufs Detail. Sie haben ein extrem gutes fotografisches Gedächtnis, sagt Pinzke. Sie wissen oft noch nach zwei Jahrzehnten, in welcher Reihenfolge ihre Schulkameraden in der achten oder neunten Klasse in den Bänken gesessen haben, die Namen haben sie längst vergessen. Sie lesen ein Buch nicht Wort für Wort, sondern betrachten eine ganze Seite aus der Vogelperspektive und haben sie im Kopf.
Doch diese Kinder und Jugendlichen haben es mitunter sehr schwer: Das Lernen in unseren Schulen ist ausschließlich links-dominant ausgerichtet. Rechts-dominant denkende Kinder könnten in diesem System untergehen, weil sie in es hineingezwängt werden und gegen sich selbst anarbeiten müssten.
I. L., Mutter von C. L., ist selbst Grundschullehrerin. Sie erzählt, dass sie neulich mit ihrer Klasse ein zu schreibendes Diktat nicht wie üblich geübt habe. Statt es mit den Kindern Wort für Wort zu schreiben und sie so dazu zu bringen, die richtige Schreibweise zu lernen, habe ich ihnen gesagt, sie sollten sich den ganzen Text einfach im Ganzen ansehen.
Das taten die Kinder eine Weile. Dann das Ergebnis des Diktats: Es gab nur Einsen, Zweien und Dreien. Auch zwei Schüler, die sonst Vieren und Fünfen schreiben, hatten eine Drei. I. L. ist überzeugt, dass es eine Menge Schüler gibt, die rechts-dominant denken und deren Leistungsmöglichkeiten in den Schulen nicht erkannt werden. L.: „Wir können es uns als Gesellschaft gar nicht leisten, auf dieses Potenzial zu verzichten.“
Auch Claudia Pinzke ist Pädagogin. Sie hat Germanistik, Sport und Psychologie studiert und am Hannah-Arendt-Gymnasium in Lengerich unterrichtet, bis sie 2003 das Institut für Bioenergetisches Lernen gründete. Zwei Schwerpunkte setzt sie in ihrer Arbeit. Zum einen werden in Seminaren rechts-dominante Lerntechniken vermittelt, die nach Aussage der Institutsgründerin beschleunigtes Lesen ermöglichen. Menschen, die viel lesen müssen, Schüler, Studenten, Juristen, Mediziner…, würden diese Seminare wahrnehmen. Man kann es schaffen, eine Buchseite in einer Sekunde zu erfassen. Zum anderen kümmert sich Claudia Pinzke um Kinder, die Schwierigkeiten haben, zum Beispiel um Kinder und Jugendliche mit Lese-Recht-Schreibschwäche oder um Kinder mit einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. Claudia Pinzke wagt die vorsichtige Prognose, dass all diese Kinder rechts-dominant denken und deshalb Leistungsdefizite oder Auffälligkeiten zeigen.
„Ich weiß ganz viel, aber keiner merkt es“, zitiert I. L. ihren Sohn. Diesen Satz habe er als Kind gesagt. Ganz bewusst, sagt sie, sei sie zusammen mit ihrem Sohn jetzt an die Öffentlichkeit gegangen. Dass es Rechts-Dominanz gibt, ist viel zu wenig bekannt.